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Verschiedene Studien (z.B. Fluder et al., 2009) haben gezeigt, dass die Selbsthilfe in Bauernfamilien besonders ausgeprägt ist und bei Schwierigkeiten in der Regel erst sehr spät fremde Hilfe geholt wird. Die Schwelle, sich an externe Stellen zu wenden, ist hoch. Deshalb sind Schwierigkeiten meist bereits sehr komplex und  die Lösungsfindung entsprechend anspruchsvoll, wenn Betroffene mit dem Helfersystem in Kontakt treten (Imoberdorf, S., 2012, S. 26). Die frühe Erkennung ungünstiger Entwicklungen und die frühzeitige Einleitung korrektiver Massnahmen sind darum von grosser Bedeutung. Rechtzeitig Hilfe zu holen kann begünstigt werden, wenn Schwierigkeiten durch familienfremde Personen angesprochen werden, beispielsweise durch (Tier-) Ärzte oder Fachpersonen des landwirtschaftlichen Treuhands.

Die Agrotreuhandstellen sind in den 1990er-Jahren im Zuge der Einführung der steuerrechtlichen Buchführungspflicht in der Land- und Forstwirtschaft entstanden. Seither unterstützen Fachleute Betriebsleitende in treuhänderischen, finanztechnischen, steuerlichen und betriebswirtschaftlichen Fragen. Je nach Agrotreuhandstelle werden auch Beratungen zu weiteren Themen, wie soziale Absicherung, Erbrecht oder Hofübergabe angeboten.

Das Potenzial der Früherkennung von Problemen in Schweizer Bauernfamilien durch das landwirtschaftliche Treuhandwesen ist bereits in verschiedenen Studien behandelt worden (Berger et al., 2000, S. 45); (Contzen et al. 2015, S. 68); (Imoberdorf, S., 2014, S. 79); (Brandstetter et al. 2015, S. 5). Aus diesen Studien wird deutlich, dass Agrotreuhandstellen als eine wichtige Schnittstelle im Hinblick auf die Früherkennung erachtet wird. Inwiefern sie diese Rolle wahrnehmen, war bisher ungeklärt. Deshalb haben Imoberdorf (2014) und Contzen et al. (2015) den Bedarf skizziert, die aktuelle und potenziell mögliche Rolle von Agrotreuhandmitarbeitenden zu eruieren und gegebenenfalls Empfehlungen abzuleiten.

Online-Befragung und Interviews

Die Thematik wurde in den Jahren 2016 bis 2017 an der Berner Fachhochschule in Zusammenarbeit des Fachbereichs Soziale Arbeit und der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften untersucht. Nachfolgend werden ausgewählte Ergebnisse und Schlussfolgerungen präsentiert.

Um herauszufinden, welche Problematiken durch landwirtschaftliche Treuhand-Fachpersonen beobachtet und thematisiert werden und ob es zu Vermittlungen ins professionelle Unterstützungssystem kommt, wurden Fachpersonen mit Abschlussverantwortung in landwirtschaftlichen Buchhaltungsmandaten online befragt. Zudem wurden explorative Interviews mit Leitern von landwirtschaftlichen Treuhandstellen durchgeführt.

Grossteil der Landwirtschaft in stabiler Situation

Die Interviews bestätigten die Vermutung, dass sich ein Grossteil der Kundschaft in stabilen betrieblichen und sozialen Verhältnissen befindet. Mit akuten oder chronischen Problemlagen ist nur ein kleiner Anteil der Kundinnen und Kunden konfrontiert. Inwiefern solche Problemlagen von Treuhand-Fachpersonen erkannt und angesprochen werden, zeigt die Online-Befragung.

Administrative, finanzielle oder betriebliche Schwierigkeiten sind für die Fachpersonen frühzeitig erkennbar aufgrund der Buchhaltungsergebnisse und des Verhaltens der Klientel. Problematische Aspekte, welche die Buchführung direkt betreffen, werden von den Fachpersonen in der Regel angesprochen. Familiäre oder gesundheitliche Probleme sind schwieriger zu erkennen und anzusprechen. Dennoch werden familiäre und gesundheitliche Angelegenheiten von rund der Hälfte der befragten Treuhand-Fachpersonen thematisiert. Die befragten Fachpersonen machen beim Ansprechen von Schwierigkeiten meist positive Erfahrungen.

Agrotreuhandstellen wichtig bei der Früherkennung von Überlastungen

Wenn Beobachtungen gegenüber der Kundschaft nicht thematisiert werden, geschieht dies oft aus Respekt vor deren Privatsphäre. Wie erwartet fällt den Befragten das Besprechen von Schwierigkeiten leichter, wenn Kundinnen und Kunden diese von sich aus thematisieren. An Grenzen stossen die Fachpersonen bei sogenannter Beratungsresistenz der Kundschaft oder dem Umgang mit Paar-, Generations- oder Arbeitskonflikten.

Die Studie zeigt, dass Treuhand-Fachpersonen bereits jetzt eine wichtige Rolle in der Beobachtung und im Ansprechen von Überlastungssituationen bei Kundinnen und Kunden wahrnehmen, wenn auch nicht systematisch. Gleichzeitig hat die Untersuchung Grenzen dieser Früherkennungsleistung ergeben: Fehlender Berufsauftrag, um problematische Situationen anzusprechen, teilweise fehlende Kompetenzen betreffend Gesprächstechniken, teilweise mangelnde Kenntnisse betreffend des Unterstützungssystems, in welches vermittelt werden könnte, sowie zusätzlich anfallende Beratungskosten, wenn Belastungssituationen thematisiert werden.

Abgrenzungsfragen und Rollenklärung offen

Die Diskrepanz zwischen dem Berufsauftrag von Treuhand-Fachpersonen, ihren berufsspezifischen Kompetenzen, Kenntnissen sowie Interessen und der erhofften beziehungsweise teilweise eingenommenen Rolle bei der Früherkennung von Überlastungssituationen in Bauernfamilien stellt eine Herausforderung dar und bedarf einer Klärung: Welche Rolle sollen Agrotreuhandstellen grundsätzlich bei der Früherkennung einnehmen, das heisst auf welchen Ebenen der Beobachtung soll eine Leistung erbracht werden? Wann oder durch wen müssten andere Stellen involviert werden? Und wer beurteilt den objektiven Hilfebedarf beziehungsweise erfasst die subjektive Hilfeerwartung bei Bauernfamilien in schwierigen Situationen (als Voraussetzung für passgenaue Hilfeerschliessung)? Diese Rollenklärung, welche eine Reflexion des Berufsauftrags und die Thematisierung der Kosten von nicht-mandatsbezogene Leistungen einschliesst, kann nur gemeinsam mit Agrotreuhandstellen vorgenommen werden. Sie soll dazu beitragen, realistische Erwartungen an Treuhand-Fachpersonen betreffend Früherkennung zu stellen und gleichzeitig Rahmenbedingungen zu schaffen, welche die Treuhand-Fachpersonen in ihrer schon jetzt wahrgenommenen Beobachtung- und Handlungsleistung unterstützen.

Neben der Reflexion des Berufsauftrags empfehlen die Autorinnen bestehende Weiterbildungsangebote zu überarbeiten, um interessierte Fachpersonen mit methodischen Kenntnissen auszurüsten, welche das Ansprechen von Problemen oder die Gesprächsführung in schwierigen Situationen unterstützen. Weiter können durch Informations- oder Themenanlässe für Fachpersonen aus Treuhandstellen und dem sozialen sowie landwirtschaftlichen Beratungswesen die Kenntnisse des jeweils anderen Systems gefördert und beispielsweise durch Online-Plattform zum Unterstützungssystem die Vermittlung vereinfacht werden. Schliesslich würden institutionelle Rahmenbedingungen wie interne Fallbesprechungen die Treuhand-Fachpersonen in ihrer Rolle der Früherkennung unterstützen, indem über den Umgang mit schwierigen Beratungssituationen ausgetauscht wird.

Abschliessend kann festgehalten werden, dass das Potenzial von Agrotreuhandstellen bei der Früherkennung von Überlastungssituationen gross ist, bestehende Herausforderungen aber einer Lösung bedürfen, um das Potenzial auszuschöpfen.

Literatur
 
Brandstetter, J., Jurt, C., Kuchen, S., Prosdocimo, L., Straub, U., & Thoma, M. (2015). Synergien zwischen
land-, hauswirtschaftlicher Beratung und sozialer Beratung nutzen. Schlussbericht. Bern: BLW.

Bieri, J., & Ganzfried, R. (2008). Working Buur. Schweizer Bauernbetriebe in prekären finanziellen Situationen. Eine Standortbestimmung. Bern: Edition Soziothek.

Contzen, S., Crettaz, E. & Forney, J. (2015). Lebensbedingungen und Handlungsansätze von Bauernhaushalten in schwierigen Situationen. Zollikofen/Genêve: BFH/HETS.

Fluder, R., Contzen, S., Neukomm, S., & Genoni, M. (2009). Bauernhaushalte unter dem Existenzminimum. Schlussbericht Konzeptsudie. Bern: BFH.

Geier, C., & Fankhauser, S. (2007). Sozialhilfepraxis mit Landwirten. Diplomarbeit. Bern: BFH, Soziale Arbeit.
Imoberdorf, S. (2012). Bauernfamilien unter Druck. Entstehung und Bewältigung von Stress im bäuerlichen Alltag und die Bedeutung von professioneller Hilfe im Coping-Prozess. Bachelor-Thesis. Bern: Edition Soziothek.

Imoberdorf, S. (2014). Wie die Hilfe zum Bauer kommt. Untersuchung zum Zusammenhang der Bewältigung betrieblicher und soziaer Anforderungen in Bauernfamilien und der eigenen (Land-) Wirtschaftspraxis. Master-Thesis. Bern: Edition Soziothek.

Imoberdorf, S., Contzen, S. & Luchsinger, L. (2017). Überlastung in der Landwirtschaft. Die aktuelle und potenziell mögliche Rolle von Agrotreuhandstellen bei der Früherkennung. Bern: BFH.

Kusemann, M. (2003). Bewältigung von Existenzgefährdung in landwirtschaftlichen Familienbetrieben. Weikersheim D: Margraf Publisher.

Sonja Imoberdorf, office@sonjaimoberdorf.com, Sandra Contzen (HAFL), sandra.contzen@bfh.ch

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